Gäseschlissel, Aglasterhausen und Daudenzell.

 

von G. Schindler

 

Es gibt Stammtischgeschichten die glaubt man nicht. Eine, die von Dampflok- und Zugpersonal trotzdem immer wieder erzählt wurde, ist die vom Lattenzaun. Die Geschichte klingt wie eine unterhaltsame Erfindung und keiner glaubte wirklich, was da amüsant aufgetischt wurde.

 

Lokführer und Heizer kommen, irgendwo hinter Aglasterhausen und Daudenzell, nach unwirtlich kurzer Nacht, die 3:30 Uhr per Dienstanweisung ihr erzwungenes Ende fand, an ihre 50iger. Von weitem schon hören sie: Nichts. Erschrecken macht sich breit. Beide lauschen angestrengt nach vorn. Sind die erwarteten Geräusche der Maschine nicht doch zu hören? Leise zwar, aber doch vernehmlich? Nein. Nichts. Nicht das geringste Säuseln. Dann, das schon geahnte Entsetzen. Der Blick in die Feuerbüchse bestätigt: Nasser Kohlestaub und feuchte Kohlen haben das Feuer erstickt.

 

Es ist eine nur mühsam zu erlernende Kunst, beim Anlegen des Ruhefeuers und Nässen der Kohle das rechte Maß zu finden: Das stationäre Feuer unter gewässertem Brennmaterial soll den Brennvorgang zwar verlangsamen, für sechs Stunden am Leben halten , aber nicht ersticken; zu wenig Wasser aber führt zum Durchbrennen des Ruhefeuers, zum Ansteigen des Dampfdrucks bis zum nächtlich lärmenden Abblasen der Sicherheitsventile.

 

Mühsames Suchen nach ein paar glühenden Kohlen bleibt ohne Erfolg. Der Kesseldruck fehlt und der Druck auf die Nerven steigt: Abfahrt 52406, soll 5:42Uhr. Die Arbeiter der Frühschicht werden am Bahnsteig frieren, wegen der Verspätung fluchen, schimpfen, mit dem Schaffner hadern. Plötzlich der erlösende, unvordenkliche Gedanke: Holz vom Lattenzaun! Verzweifelt reißen die Beiden Latte um Latte vom Zaun. Zusammen mit ölgetränkter Putzwolle werden sie ins Dunkel des Feuerlochs geschmissen. Nach und nach kommt das Feuer zu sich. Im Verlauf einer Stunde ist der Lattenzaun verzehrt und der Dampfdruck in Hoffnung nährende Bereiche gestiegen. Der nächtliche Biergenuß nach Feierabend (im Hirschen) ist gesühnt.

 

Wer’s glaubt, ist selber schuld. Und doch: Nicht viel anders hat es sich tatsächlich zugetragen. Am 30.11.1970 kamen wir nach Dienstplan Nr.63.72 Tag 14/15 hinter Aglasterhausen und Daudenzell in die Unterkunft Asbach.



Das bedeutete: Ein handbreiter Spalt unter der Tür, Schneeverwehungen bis in die Zimmermitte. Und ein Ölofen, der sich schneller heizen lässt, wenn ihm das Öl aus der Kanne direkt ins Maul gegossen wird, statt zu warten, bis es in die Brennkammer getröpfelt ist. Wir nahmen in Kauf, dass das Rohr glüht und der Ofen wummert. Wir zögerten und überlegten, ob man unter diesen Umständen Biertrinken, nein Abendessen, gehen oder doch lieber warten sollte, bis das Höllenfeuer sich beruhigt hat. Aber das vollbrachte Tagwerk verlangte nach seinem sofortigen Lohn. Schließlich lag bis zum Gasthaus Hirschen ja auch noch ein Kilometer Fußmarsch durch den Wald vor uns. Der Rückweg war dann meist etwas länger.

Für das Zugpersonal im Nebenraum gab es übrigens weder Abendessen, noch einen nächtlichen Fußmarsch durch den Wald: Schaffner und Zugführer waren in ihrem Zimmer beinahe erstickt – ein Bedienungsfehler am Ölofen, wurde später vermutet.

 


Der gewissenhafte Heizer sieht noch einmal nach dem Ruhefeuer, bevor er ins Übernachtungszimmer geht. Aber wenn man eh nur drei Stunden bis zum Wecken hat (weil man so lange auf das Abendessen hatte warten müssen), sieht man die Dinge eben anders. Dass sich der Müßiggang rächt, habe ich spätestens dann wahrgenommen, als ich mit einem 2er Dampf den Wagenpark vorheizen und später den Zug auch noch fahren sollte. Immerhin, mit viel Glück, fuhren wir den 52406 mit nur plus 22 nach Obrigheim ab. Nach rasantem Kopfmachen fuhren wir mit plus 16 mit dem 2406 wieder zurück. In Helmstadt war ich wieder munter und der 2406 wieder Plan. Was will man mehr. Und das, ganz ohne den Lattenzaun zu plündern (es waren ohnehin nicht mehr viele Latten dran).

 

Vielleicht hätten wir es ahnen können, dass wir nach dem Feuer würden suchen müssen, in der Nacht. Die Dienstschicht nämlich hatte damit seinen Auftakt genommen, dass eine verzweifelt aufgelöste Frau ebenfalls suchte. Sie war in die Lokleitung gestürmt und verlangte nach ihrem Mann oder, genauer gesagt, sie suchte ihren Gääseschlissel. Vermutlich hatte der gute Mann ihn gedankenverloren mitgenommen und war jetzt irgendwo zwischen Lindach und Binau auf der Lok. Oder er stand am Haltepunkt Haßmersheim oder vor dem Unterwegszug in Oberschefflenz. Niemand konnte der Verzweifelten sagen, wo ihr Mann, noch weniger, wo der Gääseschlissel war. Erst als sich herausstellte, dass die arme Frau ohne Gääseschlissel nicht in den Geißenstall gehen konnte, lichtete sich in der Lokleitung das Rätsel um die Frage, was um Himmelswillen ein Gääseschlissel ist. 

Eine einzige suchende Frau wäre vielleicht noch kein Ernst zu nehmender Hinweis gewesen, auf die frühmorgendliche Feuersuche auf der Lok, wenn es da nicht noch eine zweite gegeben hätte, die ebenfalls nach einem Mann fahndete: Auf dem Bahnsteig in Grombach stand, wie jedem Lokführer und Heizer bekannt, Gaby. Sie suchte unter dem Lokpersonal nach ihrem Kindsvater. Und, wie man sich erzählte, hatte sie ihn bis dato nicht gefunden.

 

Wer weitere Bahngeschichten sucht, solche, die man glauben mag und solche, die kaum zu glauben sind, dem sei geraten den Hinweis Ernst zu nehmen und Mitglied in unserem Eisenbahnverein zu werden. (KLICK)

 

 

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